„Schwungvoll gerundete und ausgefallene Formen, wie man sie bei Möbeln selten sieht“
Das Hamburger Magazin „brand eins“ hat sich in den vergangenen Jahren zu einer der wichtigsten Wirtschaftszeitschriften Deutschlands entwickelt. In der Oktober-Ausgabe 2019 erschien unter dem Titel „Von wegen bequem“ ein interessanter Hintergrundbericht über die Digitalisierung der Möbelbranche mit form.bar als Positiv-Beispiel, wie der Wandel gelingen kann. Der renommierte Fotograf Michael Hudler lieferte die passenden Bilder zum folgenden Text von „brand eins“-Autor Stefan Scheytt.
„Sie retten also die Tischler?“
„Sie retten also die Tischler?“, fragte der Tischlersohn und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als er 2018 einen der Geschäftsführer des Saarbrücker Möbelunternehmens Okinlab traf. Dabei beschäftigt das 2013 gegründete Start-up keine Tischler. Es hat auch keine Kreissägen oder Hobelmaschinen, keine Werkstatt und kein Lager. Nur ein enges Büro in der Saarbrücker Innenstadt, in dem knapp zwanzig Informatiker, Designer, Architekten, Marketingleute und Kundenberater sitzen.
Was sie kreieren, sehen Möbelsucher im Internet auf der Plattform Formbar am Bildschirm: Regale, Tische, Schränke, Betten oder Sideboards, die sie mit einem Klick zentimetergenau vergrößern oder schrumpfen lassen und in Farbe und Material verändern können, bis sie ihnen gefallen und sie in die eigene Wohnung passen. Der Preis jeder Variante wird auch gleich mit angezeigt. Die Algorithmen im 3-D-Konfigurator erlauben schwungvoll gerundete und ausgefallene Formen, wie man sie bei Möbeln selten sieht. Nur die Statik, die Beschaffenheit des Materials und die Maschinen zur Herstellung setzen der Kreativität gewisse Grenzen. Am Ende des Eigendesign-Prozesses schickt das Start-up den Datensatz an einen von rund achtzig Schreinern, mit denen es kooperiert. Der fertigt das Möbelstück und liefert es aus.
Faible für Freiformkonstruktionen
Alessandro Quaranta und Nikolas Feth, beide Ende 30, sind die Köpfe hinter Okinlab und der Onlineplattform Formbar. Quaranta ist Betriebswirt und ehemaliger Gründungsberater an der Universität des Saarlandes, Feth Architekt mit Faible für Freiformkonstruktionen. Vor ein paar Jahren bekamen beide, sie kennen sich seit der Schulzeit, den Auftrag, einen Laden auf dem Campus der Universität des Saarlandes einzurichten, in dem Uni-Fanartikel wie Kappen oder T-Shirts verkauft werden sollten. Er hatte Maße, die ungeeignet für Standardmöbel waren. Sie entwarfen die Einrichtung deshalb selbst und holten bei Schreinern Angebote für die Sonderanfertigungen ein, diese lagen zwischen 15 000 und 40 000 Euro. Das Duo erlebte dann zweierlei: Kunden im Uni-Shop, die begeistert von den Regalen waren, aber sagten: „Möbel vom Schreiner kann ich mir nicht leisten.“ Und sie stellten fest, dass es viele Schreiner mit teuren, aber oft nur schwach ausgelasteten Fräsmaschinen für Spezialanfertigungen gibt.
Das brachte die beiden auf die Idee, eine Firma zu gründen. Das Konzept: Der Kunde designt mit der Software von Okinlab sein Möbelstück am Bildschirm, das erspart dem Schreiner Zeit und Geld. Denn er muss nicht zum Ausmessen kommen und kein Angebot erstellen. Außerdem hilft es ihm dabei, seine Maschinen besser auszulasten und Kontakt zu Menschen zu bekommen, auf die er sonst wohl nie träfe. Die wiederum revidieren im besten Fall ihr Urteil, dass sie sich individuelle Möbel vom Schreiner nicht leisten können, weil sie bei Okinlab im Durchschnitt günstiger sein sollen. Zwischen beiden Seiten vermittelt das Start-up, das die Kundendesigns mit seiner Software automatisiert in Fertigungsdaten verwandelt. „Wir schließen relativ kleine Handwerksbetriebe an den E-Commerce an, die sich das allein kaum leisten könnten“, sagt Nikolas Feth. So sollen die Kleinen mit den Großen mithalten können.
„Wieder regional nah am Kunden produzieren“
Okinlab ist seit 2015 online, erwirtschaftet mit Formbar einen Umsatz im niedrigen siebenstelligen Bereich und wächst mit Raten von mitunter mehr als 70 Prozent pro Jahr. Die Firma will ihr Netz ausweiten, auf etwa 1000 Schreinerbetriebe und auf andere Länder. „Es spielt ja keine Rolle, ob wir die Daten nach München, Frankreich oder Brasilien schicken“, sagt Alessandro Quaranta.
Einen kräftigen Schub erhielt das Start-up, an dem Wagnisfinanzierer sowie der ehemalige Bitkom-Präsident und IT-Unternehmer August-Wilhelm Scheer Anteile halten, jüngst durch eine Förderung der EU in Höhe von etwa zwei Millionen Euro. Eines aber sei für die Gründer klar: Sie wollen weder eine eigene Fertigung aufbauen noch in Ländern mit Niedriglöhnen produzieren lassen. „Das würde unserer Philosophie widersprechen“, sagt Quaranta. „Wir müssen keine Maschinen und Material einkaufen, Lager verwalten und es beim Versand in alle Welt zu Transportschäden kommen lassen, die auf den letzten Kilometern zum Kunden entstehen. Wir wollen die Technologie einsetzen, die ja bereits bei den Partnerschreinern da ist, um wieder regional nah am Kunden produzieren zu können.“
Das form.bar-Prinzip ist nicht auf Holz beschränkt
Seine Firma, betont er, wolle den Prozess umkehren, bei dem klassischerweise Designer ein Möbelstück gestalten, das dann vieltausendfach gefertigt, gelagert und mit hohem Marketingaufwand verkauft wird. „Erst wenn der Kunde für das selbst gestaltete Möbel am PC ,Enter‘ drückt, beginnt die Fräse zu fräsen.“ Dieses Prinzip sei nicht auf Holz beschränkt, sagt Feth: Man denke auch an andere Materialien und Verwendungszwecke – Glas, Spiegel, Fassadenelemente oder Polstermöbel. „Jedes Produkt, das Kunden gern individualisieren wollen und das auf computergesteuerten Maschinen hergestellt wird – auch auf 3-D-Druckern –, ist prinzipiell interessant für uns.“