„Mich interessieren Teams, die die Welt erobern wollen“
Prof. August-Wilhelm Scheer ist einer der prägendsten Wissenschaftler und Unternehmer der deutschen Wirtschaftsinformatik und Softwareindustrie. Der IT-Pionier hat Tausende Arbeitsplätze geschaffen und mit seinen Firmen Millionenumsätze gemacht. Im Interview spricht Scheer über Erfolg, Entscheidungen, Disziplin, Charisma, seine Leidenschaft für Jazz-Musik, Bananen-Software und seine Begeisterung für form.bar.
Lieber Herr Scheer, wir von form.bar sind davon überzeugt, dass das Leben formbar ist – wie haben Sie es
geschafft, es nach Ihren Wünschen zu gestalten?
Um große Ziele zu erreichen, braucht man Mitstreiter. Denn allein ist man wirklich allein und kann nicht viel
bewegen. Daher sind Überzeugungs- und Begeisterungsfähigkeit wichtig.
Man muss versuchen, andere für seine Ideen zu gewinnen. So sehr, dass sie sich damit identifizieren und einem
helfen, die Ideen zu realisieren.
Ein gutes Team ist also entscheidend, um Erfolg zu haben?
Absolut. Doch gleichzeitig braucht es Platz für Individualität, um Ideen entwickeln zu können. Beethoven hat
nicht im Team komponiert.
Den Satz habe ich einmal bei einem Vortrag benutzt, um die Bedeutung Einzelner zu betonen, die unsere Welt
verändern.
Aber hätte Beethoven nie jemanden gefunden, der seine Musik spielt, wäre er auch nicht weltbekannt geworden. Es
ist ein Dualismus.
Was zeichnet Führungspersonen aus?
Ich kenne ja einige bedeutende Unternehmer, die riesige Firmen geschaffen haben, und was die allermeisten von
ihnen verbindet, ist Charisma.
Das ist ganz wichtig. Man muss eine glaubwürdige Persönlichkeit sein, an der sich andere orientieren können, die
sie vielleicht auch ein Stück bewundern.
Es geht um Fähigkeiten, die nicht so leicht zu finden sind. Dazu kommt: Auch der Zeitpunkt ist wichtig. Die
Qualität eines Managers ist die Verbindung seiner Fähigkeiten mit der Situation.
Wenn man in einer Krise ist, braucht man jemanden, der hart durchgreift. Aber jemand, der das kann, ist unter
Umständen nicht gut, wenn ein Unternehmen in ruhigem Wasser schwimmt.
„Wenn man durchpowert, setzt man seine Idee durch“
Das heißt, es gibt nicht den einen Erfolgstypen, Erfolg hängt von vielen Faktoren ab?
Genau. Man kennt das doch auch aus dem Fußball. Da wird ein Trainer bei einem Verein entlassen, gewinnt mit dem
nächsten aber die Champions League.
Man kann nicht absolut sagen, wann jemand erfolgreich ist, sondern es muss auch die Situation dazu passen.
Wenn man zum Beispiel mit einer Idee zu früh kommt, kann diese noch so gut sein, wenn der Markt sie nicht
aufnimmt, dann verpufft sie.
Man muss auf eine Situation treffen, bei der der Bedarf mit dem Angebot zusammentrifft. Das gilt auch für die
Forschung, da war ich selbst auch manchmal zu früh, etwa mit der Industrie-Automatisierung.
Die Ideen waren richtig, aber die Technik war noch nicht soweit. Heute ist unter dem Schlagwort Industrie 4.0
die Technik wesentlich weiter, und die Ideen von damals können umgesetzt werden.
Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben?
So ist es. Andererseits: Wenn man dem Markt nicht voraus ist, kann man ja auch nicht innovativ sein. Innovativ
sein heißt ja, etwas zu erschaffen, was noch nicht da ist, im Idealfall eine disruptive Technologie.
Ist man aber zu früh, geht es schief. Das Beste ist, wenn man mit einem kleinen Unternehmen eine Idee nach und
nach vorantreibt.
Wenn man klein ist, kann man sich in den Markt hineinentwickeln und auch exponentielles Wachstum hinbekommen.
Wenn der Markt schon da wäre, würden ihn auch die Großen sofort belegen.
Aus Ihrer persönlichen Erfahrung: Was ist die wichtigste Eigenschaft, um Erfolg zu haben?
Durchhaltevermögen. Wenn man wirklich an eine Sache glaubt und dranbleibt, dann macht man sie auch erfolgreich.
Wer soll Interesse haben, einem immer Widerstand entgegen zu bringen?
Wenn man durchpowert, setzt man seine Idee durch. Dieses Nicht-Aufgeben begegnet einem immer wieder auch in den
Biografien wichtiger Erfinder.
Rudolf Diesel zum Beispiel musste viele Rückschläge verkraften, Adolph Sax, der Erfinder des Saxophons, war
mehrfach pleite, auch Elon Musk stand zweimal vor dem Aus.
Er konnte seine Unternehmen nur retten, weil ihm Freunde Geld geliehen haben. Man muss einfach dranbleiben und
darf sich nicht von den ersten Winden aus dem Markt herausschieben lassen.
Dazu gehört natürlich auch Disziplin. Ohne Disziplin kann man kein erfolgreiches Leben führen.
Was ist mit Mut?
Ich würde nicht sagen, dass ich ständig besonders mutig bin. Eher andersrum, viel hat mit Angstgefühlen zu tun.
So wie es der Gründer von Intel, Andy Grove, gesagt hat: „Only the paranoid survive!“
Gerade in Branchen, die so schnelllebig sind wie die IT, ist es ganz wichtig, dass man erkennt, wo die neuen
Ideen herkommen, welche Start-ups gefährlich sein können.
Wenn man immer nur selbstsicher und besonders mutig wie Hanns Guck-in-die-Luft durch die Welt geht, in dem
Glauben, mir kann ja nichts passieren, ist man eher gefährdet, als wenn man vorsichtig ist.
Dennoch darf das nicht dazu führen, dass man zurückhaltend ist, und gar nichts mehr wagt. Man muss sehr schnell
bereit sein, auch Risiken einzugehen.
Ich glaube, dass ich diese beiden Eigenschaften einigermaßen habe. Ich bin vorsichtig, kann aber auch sehr
schnell entscheiden.
Etwa beim Rückkauf von Teilen der IDS Scheer AG oder bei der Übernahme von Ämtern wie dem Präsidentenamt beim
Bitkom.
„form.bar passt genau in die heutige Zeit“
Wie entscheiden Sie in der Regel?
Aus dem Bauch heraus ist gar nicht schlecht, weil sich dann im Gehirn schon viele Erfahrungen verknüpft haben.
Das führt dazu, dass man sehr schnell abcheckt, was passieren könnte, bei mir laufen da routinemäßig
Worst-Case-Szenarien ab.
Und wenn ich dann sagen kann, das kostet nicht mein Leben und danach bin ich nicht arm, dann kann ich mich in
einer gewissen Bandbreite bewegen.
Warum haben Sie sich dazu entschieden, form.bar als Investor zu unterstützen? Was hat sie überzeugt?
Grundsätzlich interessieren mich vor allem die Menschen, die neue Unternehmen gründen, ob sie die erforderlichen
Eigenschaften haben, die man braucht.
Mich interessieren Teams, die ehrgeizig sind, die Power haben und die Welt erobern wollen. Bei den
form.bar-Gründern ist es eine sehr gute Kombination unterschiedlicher Typen mit unterschiedlichen Stärken.
Zudem passt das Businesskonzept, also ein Plattform-Unternehmen, genau in die heutige Zeit. Was mir auch sehr
gut gefällt, ist, dass form.bar vom Konsumenten her gedacht ist:
Was will der Endverbraucher, welche individuellen Wünsche hat er?
Haben Sie auch eine Leidenschaft für gutes Design?
Ich kann Ihnen gerne mal mein Haus zeigen, da werden Sie feststellen, dass es einigermaßen geschmackvoll
eingerichtet ist, ich habe da immer auch eng mit den Architekten zusammengearbeitet.
Ich bin an Kunst interessiert, an Design, von daher passt auch das zu form.bar.
„Die beste Möglichkeit, kreativ und selbstbestimmt zu leben“
Welchen Rat würden Sie Ihrem 20 Jahre alten Ich geben?
Ein unternehmerisches Leben zu führen. Denn ich glaube immer noch, dass das die beste Möglichkeit ist, sein
Leben kreativ und selbstbestimmt zu führen.
Ich bin ja mit 80 noch berufstätig und mir macht das große Freude, wo kann man das sonst schon?
Wie hoch ist der Preis des Unternehmerseins? In Ihrem jüngsten Buch „Timing“ schreiben Sie von einem
permanenten Alarmzustand…
Ich war und bin nicht immer in einem Alarmzustand, aber in bestimmten Situationen schon, auch über längere
Zeiträume, wenn schwierige menschliche oder wirtschaftliche Situationen zu bewältigen waren und sind.
Etwa beim Verkauf meines Unternehmens oder beim Rückkauf oder wenn besondere Personalentscheidungen anstehen. Es
gibt ja nie 100-zu-0-Entscheidungen, da grübelt man schon sehr und schwankt auch mal.
Haben sie richtig schlechte Entscheidungen in Ihrem Leben getroffen?
Das ist schwierig zu beantworten. Die Wertung richtig oder falsch hängt nicht am Entscheidungszeitraum, sondern
daran, wie sich die Dinge entwickeln.
Wir haben mal ein Unternehmen gekauft für mehrere Millionen, dann aber gemerkt, dass die Software nicht
ausgereift war.
Wir konnten das Produkt also nicht verkaufen, mussten alles neu entwickeln, alles war also negativ.
Trotzdem ist es heute gut, dass wir es getan haben, weil es am Ende doch ein großer Erfolg wurde.
„Faul am Strand liegen? Fürchterlich! Eine Horrorvorstellung!“
Ist Erfolg das, was sie antreibt? Oder was ist es?
Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht ist mein Antrieb einfach, ein interessantes Leben zu führen.
Ich hatte nach dem Verkauf der IDS Scheer AG eine Phase, wo ich raus war aus dem Business, von heute auf morgen.
Ich bin nicht direkt in ein Loch gefallen, aber ich fühlte mich nicht wohl.
Und die Zeit damit zu füllen, eine Reise zu machen oder so etwas, das war mir zu wenig. Heute kann ich sagen, es
war gut, dass ich das unternehmerische Leben wieder angefangen habe.
Hatten Sie nie das Ziel, die Füße hochzulegen und faul am Strand zu liegen?
Nein, das ist fürchterlich, eine Horrorvorstellung. Ganz schlimm. Ich nutze auch das Wort Urlaub nicht.
Ist das Leben dafür zu kostbar?
Schauen Sie, was ist der Mensch? Man ist ein System, das irgendwie zustande gekommen ist, ein Zufallsprodukt.
Wäre ein anderes Spermium etwas schneller gewesen, wäre man nicht da, das relativiert vieles schon mal.
Dieses System auszureizen und zu sehen, zu was es fähig ist, ist doch ein interessantes Abenteuer. Insofern
finde ich es einfach schön, aktiv zu sein, solange es die Gesundheit mitmacht.
Was tun Sie für Ihre Gesundheit?
Ich bemühe mich, ein einigermaßen gesundes Leben zu führen. Nicht übertrieben, aber ich laufe zum Beispiel jeden
Morgen zwei Stunden durch den Wald, damit ich fit bleibe.
Ich sehe das nicht als Selbstzweck, sondern das ist erforderlich, um mich gesund und leistungsfähig zu halten.
Sonst würde ich alles andere nicht schaffen.
Die Herausforderung bei mir ist, dass ich mit hochintelligenten Leuten zu tun habe, mit jüngeren vor allem, die
fordern mich natürlich.
Wenn ich mit denen nicht mehr auf einer Ebene reden könnte, wäre das natürlich schlimm.
Also muss ich sehen, dass ich mich weiterbilde, mitreden kann, diese Anspannung hält mich auch fit und das ist
eigentlich auch ein ganz schönes Gefühl.
Es ist wie beim Radfahren: Wenn man aufhört zu treten, fällt man um.
Sie sind erfolgreich als Wissenschaftler, Unternehmer, Politikberater und auch als Musiker. Wären Sie gerne
sonst noch irgendwas geworden? Fußballprofi vielleicht?
Klar, warum nicht (lacht). Mich interessiert Sport, doch da war ich nicht so begabt. Aber sich im Wettbewerb zu
beweisen, das reizt mich natürlich.
Ein großes Fußballtalent war mir jedoch nicht in die Wiege gelegt.
„Ohne quälen geht es nicht“
Sind Sie auf irgendetwas in Ihrem Leben besonders stolz, mit irgendetwas besonders zufrieden?
Die Frage habe ich schon häufig gestellt bekommen: Bist du zufrieden? Ich kann darauf nie konkret antworten. Ich
kann schauen, ob ich die Erwartungen erfüllt habe, die ich selbst an mich gerichtet habe.
Ich bin sicher nicht unzufrieden, aber als Norddeutscher bin ich eher zurückhaltend, jubele nicht groß rum den
ganzen Tag.
Es ist schon ein schönes Gefühl, wenn ich morgens in Saarbrücken auf die Scheer Tower zufahre und sehe, was sich
dort alles entwickelt hat. Aber ich bin nicht überschwänglich.
Musik macht ebenfalls einen wichtigen Teil Ihres Lebens aus. Sie sind begeisterter Jazz-Saxophonist und mit
Ihrer Band „Groovin‘ High“ regelmäßig unterwegs. Wann haben Sie zuletzt geübt?
Ehrlich gesagt gestern Abend. Und am Abend davor auch und am Tag davor auch. Wir haben zuletzt einige
Livestream-Konzerte gegeben und echte Auftritte kommen auch wieder. Ich mache schon viel, weil es Spaß macht.
Was kann man von der Musik lernen für das Leben als Unternehmer?
Disziplin. Ohne quälen geht es nicht. Ich wechsle da zwischen Glücksgefühlen und depressiven Momenten, wenn
etwas nicht geklappt hat.
Und die Improvisation im Jazz lässt sich auf viele andere Bereiche übertragen. Die Gewissheit, dass man sicher
ist, dass man auch unerwartete Situationen gut hinbekommt.
Dass man über einen Fundus verfügt, mit dem man sich aus einer kritischen Lage befreien kann, dass man nicht in
Panik verfällt.
Während Corona hat man gemerkt, dass viele Politiker auf das Unerwartete gar nicht vorbereitet waren.
Bevor Impfstoffe bestellt wurden, haben die erstmal tagelang Richtlinien studiert, während ein Manager von Lidl
oder Aldi in diesen ungewissen Situationen eine große Bestellung sicher eher hinbekommen hätte,
weil er die Erfahrung hat. Schnell zu reagieren in unerwarteten Situationen – ein bisschen habe ich das gewiss
auch durch die Musik gelernt.
Von Ihnen stammt der Satz, viele Unternehmer in Deutschland seien „nicht wurstig genug“. Was meinen Sie
damit?
Ich meine damit den in Deutschland herrschenden Perfektionismus, dadurch kommt man teilweise zu spät. Doch ein
Produkt muss nicht von Anfang an perfekt sein.
Die Amerikaner haben das verstanden, die haben keine Probleme mit „Bananen-Software“, die noch beim Kunden
reift. Das aber widerstrebt dem deutschen Ingenieursdenken.
Zum Abschluss: Gibt es Zitate oder Weisheiten, die Sie besonders gut finden?
Als Schüler, so mit 16, 17, habe ich in Bremen bei einer Wirtin gewohnt, das war eine Nette, eine Gute, sie hat
mir Sprüche fürs Leben mitgegeben.
Einer lautet: Man darf nicht alles ins Schaufenster legen, sondern muss auch noch was im Laden haben. Wenn man
nichts nachlegen kann, ist das schlecht.