„In 10 Jahren haben wir den T-Rex“
Max Thinius ist ein echter Futurologe. Allein das macht ihn schon zu etwas ganz Besonderem in Deutschland. Er ist aber auch ein Futurologe, der die Zukunft überhaupt nicht kennt, aber dafür weiß, welche Möglichkeiten sie uns bringt – oder bringen kann. Wenn wir das wollen. Wie das geht, erzählt Max Thinius im Interview mit dem form.bar-Magazin.
Ihr habt bestimmt 120.000 Kontakte allein durch mich bekommen in den letzten Jahren?
Das kommt jetzt schon mal ziemlich unvermittelt als Intro. Wie meinst du das, Max?
Ich bin ein Riesen-Fan von euch und eurem Unternehmensmodell. Wenn ihr eine AG wärt, würde ich sofort Aktien kaufen. Das sage ich auch bei allen meinen Vorträgen.
Wie viele Vorträge machst du so im Jahr?
Letztes Jahr waren es ungefähr 140, 150. Da hast du dann mal 3000, mal 5000, mal hast du auch „nur“ 60 Leute da sitzen.
Dann mal ein herzliches Dankeschön für diese Riesen-PR. Wie haben wir dich rumgekriegt?
Euer Modell ist eigentlich die Grundlage von Digitalität, also des modernen Arbeitens.
Quasi die Zukunft. Unsere Zukunft. Euer Prozess ermöglicht es, überall auf Basis einer digitalen
Vorlage Regale zu produzieren. Mit einem genialen Öko-Fußabdruck. Ihr seid für mich damit
diejenigen, die im Prinzip die Industrialisierung zurückbauen – zugunsten von lokaler
Wertschöpfung, von lokalen Handwerksbetrieben, ganz über Dörfer, Kleinstädte und Metropolen
hinweg in Deutschland. Und das erzähle ich dann auch immer bei meinen Shows über euch. Das ist
genau das, worum es bei einer positiven Erzählung der Zukunft geht. Um Möglichkeiten.
Mittlerweile haben wir in über 20 Ländern Fertigungspartner, die zwar nicht regelmäßig
für uns produzieren, die aber schon unsere Daten nutzen. Ob in Australien, Afrika, also auf jedem
Kontinent waren wir schon vertreten. Aber unser Hauptaugenmerk liegt eben klar auf Deutschland.
Sobald die Produktfußabdrücke kommen, führt kein Weg mehr an eurer Arbeitsweise
vorbei. Da werdet ihr immer wichtiger.
„Sobald die Produktfußabdrücke kommen, führt kein Weg mehr an eurer Arbeitsweise vorbei.“
Da spricht der Futurologe. Dazu kommen wir auch gleich. Ich muss nur die ganze Zeit
auf deinen Hut schauen. Den hast du eigentlich immer auf. Ist das dein Markenzeichen?
Ich habe einfach so eine Durchschnittsfresse (lacht). Nein im Ernst: Erstens ist es schön
warm unter so einem Hut und zweitens hast du natürlich Recht! Der Hut ist da zur
Wiedererkennung. Entstanden ist das Ganze einmal in der Rheingoldhalle in Mainz, als ich da für
die Sparkasse unterwegs war und der Auftraggeber Angst hatte, mich im Gewühl der 5000, 6000
Menschen nicht wiederzuerkennen. Ich habe ihm gesagt: Natürlich lasse ich den Hut auf. Und da
war er dann glücklich und wusste immer, wo ich ungefähr rumlaufe
Aus dem gleichen Grund dann auch die orangefarbenen Schuhe…
Auch das ist super auf Konferenzen, wenn die Leute dann alle auf ihre Smartphones
gucken und sehen auf einmal ein paar rote Schuhe vor sich herlaufen. Ich trage deshalb auch meist
ein orangefarbenes Hemd.
Kommst du womöglich aus Holland?
Orange ist die International Color of Kindness – und passt gut zu Jeans, wie Mutter früher
immer gesagt hat. Und der Nachname Thinius ist tatsächlich holländisch. Das ist richtig. Er leitet
sich vom Wort Tienden ab, also die Zehnten. Wir waren früher die Steuereintreiber in Holland.
Neben der Marke machst du aber auch in Zukunft. Du bist Futurologe und by the way
der erste, den wir je interviewen durften. Weißt du schon, wie wir in 5 oder in 20 Jahren leben?
Ein großer Unterschied zwischen Futurologie und Zukunftsforschung ist: Futurologie
erkennt Möglichkeiten, Zukunftsforschung berechnet Wahrscheinlichkeiten.
„Du kannst die Zukunft so gestalten, wie du willst.“
Kannst du das genauer erklären?
Zukunftsforscher berechnen quasi mit mathematischen Formeln die Wahrscheinlichkeiten
von Entwicklungen, jede Menge Variablen kommen dazu, die ergänzt werden von individuellen
Werten, die Menschen am Ende des Tages haben. Also wenn wir heute die Zukunft mal
hochrechnen wollen, sage ich dir ganz klar, dass du die Zukunft nicht berechnen kannst. Und da
spielt noch eine weitere Sache für die Berechnung der Zukunft eine entscheidende Rolle.
Welche?
Wir sind jetzt in der Digitalisierung, nicht mehr in der Industrialisierung. Das kann man
sogar genau messen.
Ok...
Seit 2018 entstehen mehr digitale Strukturen als industrielle. Und ungefähr 2028 bis 2032
wird das Ganze kippen, so dass es in den meisten Branchen mehr digitale Strukturen gibt. Das
heißt, wir sind nicht mehr so angewiesen auf diese eine Technologie und auf diese
Wahrscheinlichkeiten, die wir in der Industrialisierung immer brauchten. Viele Menschen stöhnen
aktuell sogar darunter, weil sie sagen, jetzt nicht noch mehr Technologie. Ich sage immer, je mehr
Technologie, desto besser, weil desto unwichtiger wird die einzelne. Du hast im Prinzip die
Möglichkeit, wenn du eine Vision und eine konkrete Idee hast, was du machen willst – die musst du
natürlich erst mal haben – hast du dann in der Regel Tausende von Möglichkeiten, diese auch
umzusetzen.
Das ist ein komplett neues Lebensgefühl.
Vollkommen anders als in der Industrialisierung. Da musst du nicht immer kucken, was
mit dem Vorhandenen eigentlich möglich ist. Du hast durch mehr Digitalität erstmal viel mehr
Möglichkeiten, deine Vision zu leben und dafür eine Technologie zu finden, die dich dabei
unterstützt, das Ganze umzusetzen. Und das ist dann eine vollkommen neue Denke. Und dieses
neue Denken führt dazu, dass wir das Leben nicht mehr in Wahrscheinlichkeiten, sondern eben in
Möglichkeiten denken müssen. Und diese Möglichkeiten liegen vor Ort, nicht in der Ferne.
Das klingt toll – und nach form.bar.
Du kannst die Zukunft so gestalten, wie du willst. Wir können natürlich Annahmen
treffen, wie die Zukunft in 10 und in 20 Jahren sein wird. Die Annahmen sind allerdings, ich meine,
schaut mal das, was wir jetzt allein mit KI bekommen haben, und das sind jetzt gerade mal die
Large Language Models. Ich würde mal vermuten, dass wir in 10 Jahren auf heute zurückschauen
und sagen, dass das so etwas wie der Einzeller der smarten Evolution gewesen ist. Und in 10 Jahren
haben wir dann so etwas wie den T-Rex. Mit der Geschwindigkeit geht das jetzt voran.
Und was kann der T-Rex?
Neben den Large Language Models kommen jetzt ja zunächst mal die Large Action
Models dazu. Und die Large Emotional Models. Also das, was du jetzt mit der Apple Vision Pro in
den Anfängen erlebst, die anhand der Pupillen deine Emotionen verbunden mit Aktionen messen
kann. Der T-Rex produziert also ein gigantisches neues Datenmaterial. Und diese Daten und
Informationen dürften gar nicht alle oder allein Unternehmen gehören, sondern bei uns selbst.
Und was sollen wir bitte mit dem Wust an Daten in der Zukunft treiben?
Theoretisch das, was wir auch heute schon damit machen könnten oder sollten. Sie
beispielsweise an einer Datenbörse verkaufen. Das wären so pro Person pro Monat zwischen 50 und
250 Euro, schätze ich. Das heißt, wenn du eine Familie mit vier Personen hast, kannst du mit deinen
Daten bis zu 1000 Euro machen. Und du könntest auch sagen, ich möchte meine Daten nur an
Unternehmen verkaufen, die nachhaltig in Europa unterwegs sind. Also gestalten. Dann würdest du
einfach zu deinem Sparkassen-Datenbroker gehen und der würde für dich dein Datengeld
investieren. Dieses Datengeld würde den Menschen auch viel mehr Anreize schaffen, sich mehr mit
ihren Daten und den darin transportierten Informationen auseinanderzusetzen.
„In Kopenhagen gibt es das Balkongesetz.“
Es gibt unendliche Möglichkeiten…
…und sie führen alle zu mehr Demokratisierung und auch zu mehr Teilhabe
verschiedenster Bereiche, mehr lokaler Wertschöpfung, mehr Ausgeglichenheit in den
verschiedenen Bevölkerungsgruppen – wenn wir das wollen. Das Handwerk kehrt zurück, da wir
nicht mehr so angewiesen sind auf industrielle Prozesse und so weiter. Kleinere Regionen können
wieder wachsen. All das kann passieren, aber auch nur dann, wenn wir dahingehend handeln. Wir
entscheiden, welche Möglichkeiten wir nutzen wollen. Wenn wir aber weiterhin so da sitzen und
denken, jetzt tun wir mal so, wie während der Industrialisierung und warten ab, was in Zukunft
kommt, dann kommt gar nichts.
Menschen müssen also ihr Mindset ändern?
Ich zeige bei meinen Vorträgen immer ein Chart. Das ist auch quasi immer einer der
Höhepunkte meiner Auftritte. Im Prinzip ist das ein ganz einfaches weißes Blatt mit genau zwei
schwarzen Punkten drauf. Und das ist genau das Problem unserer Denkweise. Was wir sehen, sind
nämlich immer die beiden schwarzen Punkte. Was wir nicht auf dem Chart wahrnehmen, sind die
1,4 Millionen weißen Punkte darum. Die 1,4 Millionen Punkte hat aber jeder Mensch zur
Verfügung, um seine individuelle Zukunft zu gestalten. Aber wir versuchen immer nur um diese
schwarzen Punkte herum eine Lösung zu finden, was uns aber gar nicht gelingt.
Wie kommen wir davon weg?
Was wir eigentlich machen sollten, ich nenne das immer Slow Future. Wir müssen aus
diesem Nachdenken, Nachlaufen weg und müssen erst mal zur Besinnung kommen, für uns
überlegen, was eigentlich unsere Werte sind oder sein sollen? Und was will ich persönlich? Wir
müssen einen freien Blick bekommen. Die Menschen in Kopenhagen machen das sogar
sprichwörtlich.
Wie das?
In Kopenhagen gibt es das Balkongesetz. Alles, wo du nicht mehr hochrufen kannst, wie
zu einem Balkon, darf nicht gebaut werden. Weil das ist oberhalb dessen, was der Mensch
wahrnehmen kann. Da gibt es natürlich noch so ein paar Bausünden der Vergangenheit, aber neu
gebaut werden darf jetzt nur noch mit diesem Balkongesetz.
Das klingt genial einfach.
Ist es auch! Die Skandinavier haben auch schon mehr verstanden, warum grüne
Innenstädte nicht nur toll für den Klimaschutz sind. Kopenhagen hat massiv Stadtteile begrünt und
nach kurzer Zeit festgestellt, dass das Bildungsniveau, der Notendurchschnitt an Schulen und
Universitäten, das ganze Leistungsniveau im grünen Kiez ansteigt. Warum? Weil offensichtlich
einfach mehr Menschen dort gerne zusammentreffen, sich besser austauschen, besser unterstützen.
Weil sich die Menschen ganz offensichtlich im Grünen wohler fühlen.
Das ist jetzt auch wenig verblüffend.
Und gute Stadtplanung geht schon heute mit Daten, die wir haben. Und die Digitalität hat
schon jetzt in vielen Städten Einzug gehalten. Viele versuchen gerade innerstädtische Einheiten zu
bilden von nicht mehr als 20.000 Menschen.
Warum diese maximale Größe?
Das kommt auch aus der Software-Architektur. Bei Software gibt es längst den Wandel
von den großen Zentralen zu immer mehr polyzentralen Strukturen und zwar in allen Ebenen. Jetzt
hast du kleinere autarke Einheiten, die für sich eine Funktion haben, dafür verantwortlich sind und
so stärker sind. In Städten kann man feststellen, dass in diesen kleineren Kiezstrukturen rapide die
Kriminalitätsrate, die Verlustängste, die Einsamkeitsquoten, die Arbeitslosenquoten sinken, weil
Menschen mehr miteinander interagieren. Es entsteht mehr positives Leben, die Städte bleiben
sauberer. Diese großen Strukturen, die wir für die Industrialisierung gebaut haben, waren halt
optimal für den wirtschaftlichen, industriellen Prozess, aber sind eben nicht mehr optimal für das
soziale Leben heute.
Du hast gesagt, du bist Fan von form.bar. Aber wie wir dich kennengelernt haben, hast
du dir sicher Gedanken gemacht über uns. Was würdest du uns raten, was wir Menschen in einer
Zukunft mit schier unendlichen Möglichkeiten anbieten sollten?
Zuerst mal: Die Zeit spielt für euch und euer Modell, wie anfangs schon gesagt. Wir alle
kennen ja den Satz, wer zweimal günstig kauft, kauft halt eben teuer. Ich glaube auch, dass das sich
wieder in den Köpfen durchsetzen wird. Und auch das ist gut für Unternehmen wie euch, die eben
kein „Fast Design“ machen. Aktuell, schaut man sich zumindest die sozialen Medien an, ist das ja
das Gegenteil von Slow Future.
Ja, total!
Was in Zukunft gut wirken könnte, wäre eine Ikone von form.bar.
An was denkst du?
Ihr solltet vielleicht mit eurem einzigartigen regionalen Netzwerk, dem Design-Knowhow,
der Design-Sprache und eurem Anspruch an Qualität und Nachhaltigkeit mal ein eigenes
ikonographisches Möbel entwerfen. So etwas wie es Marken wie Birkenstock auch gemacht haben.
Jeder hat beim Namen direkt ein Bild eines Schlappen im Kopf. Und das ist etwas, was Marken wie
Louis Vuitton oder auch Vitra geschafft haben. Da geben Leute auch gerne 2000 Euro mehr aus,
allein wegen des Namens. Sie profitieren alle davon.
Vielen, vielen Dank, Max, für das unglaublich inspirierende Gespräch.
Ich danke euch auch.